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Digitalisierung in der Finanzbranche: »Die Bank der Zukunft öffnet sich«

Blick auf Frankfurt s Wolkenkratzer

Die deutschen Banken stehen vor großen Herausforderungen. Ihre wichtigste Einnahmequelle, die Zinsüberschüsse, sinken seit Jahren, die Provisionserträge stagnieren. Was müssen sie tun, um am Markt zu bestehen? Ein Gespräch mit Jürgen Moormann, Professor für Bank- und Prozessmanagement.

Herr Prof. Moormann, die Konkurrenz auf dem Finanzmarkt wird größer, der Wettbewerb schärfer. Wie müssen sich deutsche Banken in Zukunft aufstellen?
In der Tat, die Lage ist bedrohlich. Die Eigenkapitalrendite der Banken liegt im Durchschnitt nur noch bei zwei Prozent. Die Banken müssen aktiv werden. Doch es reicht nicht, die Kosten zu senken. Banken müssen ihre Erträge erhöhen und Geschäftsmodelle entwickeln, die über das klassische Bankgeschäft hinausgehen.

Welche Rolle spielen dabei die Digitalisierung, Smart Data oder Künstliche Intelligenz?
Die Digitalisierung ist essenziell für das Überleben. Schließlich sind Banken informationsverarbeitende Unternehmen, auch wenn diese Erkenntnis noch nicht überall durchgedrungen ist. Damit verbunden ist die große Bedeutung von Smart Data, Künstlicher Intelligenz und Technologien wie Blockchain. Man kann durchaus den Vergleich mit Handelsunternehmen wie Zalando, Amazon usw. ziehen. Sie nutzen massiv die ihnen zur Verfügung stehenden Daten, indem sie sie analysieren und daraus Schlussfolgerungen ziehen. Kunde X interessiert sich für ein bestimmtes Produkt. Was könnte ihn noch interessieren? Was können wir ihm noch anbieten? Was passiert im Prozess des Kunden? Daraus ergeben sich vielfältige Möglichkeiten für neue, hilfreiche Services. Das ist ein wichtiger Ansatzpunkt von Data Analytics.

Sind hier die IT-Dienstleister in der Pflicht?
IT-Dienstleister wie Atruvia müssen der Motor sein. Von ihnen wird erwartet, dass sie die angeschlossenen Banken mit der notwendigen digitalen Infrastruktur versorgen. Und diese ändert sich ganz massiv. Benötigt werden multikanalfähige, offene Systeme. So muss es zukünftig Schnittstellen zu anderen Systemen geben, vor allem nach außen. Bisher ging es immer darum, Banken aus Sicherheitsgründen möglichst abzuschotten. Jetzt geht es darum, sie zu öffnen und mit Partnern zusammenzuarbeiten – und trotzdem das hohe Sicherheitsniveau aufrechtzuerhalten. Das sind große Herausforderungen, die gestemmt werden müssen.

Jürgen Moormann

Portraitansicht Prof. Dr. Jürgen Moormann

Prof. Dr. Jürgen Moormann ist Professor für Bank- und Prozessmanagement an der Frankfurt School of Finance & Management. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Strategieentwicklung, Business Engineering und Prozessmanagement in Banken. Er ist Autor zahlreicher Fachartikel. 2005 gründete er das ProcessLab – ein auf das Prozessmanagement in der Finanzbranche ausgerichtetes Forschungscenter.

Sie sprechen davon, dass Banken IT-Unternehmen werden müssen. Was meinen Sie damit?
Die Bedürfnisse der Kunden haben sich grundlegend verändert. Und damit auch die Interaktion zwischen Kunden und Banken. Das hat viel mit der Verbreitung des Smartphones, dem Aufkommen von Vergleichsplattformen, sozialen Medien etc. zu tun. Früher gingen Kunden in die Filiale, um eine Finanzierung für den Wohnungskauf nachzufragen. Das funktioniert heute nicht mehr. Die Kunden gehen stattdessen auf Plattformen. Wenn Banken auf sie warten, geht ihnen das Geschäft verloren. Sie müssen die Kunden viel früher abholen, indem sie quasi erahnen, was diese möchten. Die Banken müssen sich intensiv Gedanken darüber machen, wie Kundenprozesse ablaufen. Die Kunden wiederum möchten unterstützt werden. Dazu können Banken digitale Plattformen anbieten, auf denen die Kunden alles vorfinden, was für sie relevant ist – zum Beispiel zu den Themen Bildung, Bauen, Wohnen, Betriebserweiterung. Banken müssen umdenken: Was können sie den Kunden anbieten? Wie können sie die Kunden unterstützen? Über Plattformen oder digitale Ökosysteme können sie Angebote machen. Etwas provokativ formuliert geht es darum: Plattform werden oder sterben.

Was unterscheidet Plattformen und digitale Ökosysteme voneinander?
Plattformen sind Strukturen für zweiseitige Märkte. Beispiele sind Booking, Airbnb, Mobile.de, aber auch der AppStore von Apple. Dort kommen Kunden und Anbieter zusammen. Und die Plattform-Betreiber bekommen dafür eine Provision. Bei digitalen Ökosystemen geht man noch weiter. Das ist das Zusammenspiel von Anbietern, Kunden, Plattform-Betreibern und weiteren Dienstleistern, so dass weitgehend alle Bedürfnisse der Gruppe abgedeckt werden und weitere Partner von außen nicht mehr nötig sind. Ein Beispiel ist Ping An aus China, eines der weltweit größten Versicherungsunternehmen. Das Unternehmen betreibt bereits mehrere enorm große Ökosysteme. Eine dieser Plattformen nennt sich Good Doctors, umfasst ein umfangreiches Angebot an medizinischen Leistungen und hat 250 Millionen registrierte Nutzer. Analog muss sich eine Bank überlegen, wo und wie sie sich in Kundenprozesse einklinken oder selbst ein digitales Ökosystem aufbauen kann.

Sollten sich Plattformen oder Ökosysteme deutscher Banken eher regional ausrichten, weil sie auf dem großen weltweiten Markt nicht bestehen können?
Die Ausrichtung hängt immer von der strategischen Positionierung der jeweiligen Bank oder Bankengruppe ab. Wichtig ist, dass digitale Ökosysteme einen klaren Schwerpunkt haben, etwa „Bauen und Wohnen“. Für genossenschaftliche Banken bietet sich sicherlich der regionale Fokus an. Das Spektrum ist jedoch groß. Die VR-Bank Würzburg hat zum Beispiel eine Plattform kreiert, die sich auf das Crowdinvesting konzentriert. Angeschlossen sind 20 weitere Banken. Die apoBank konzentriert sich dagegen auf eine Plattform für Heilberufler und Institutionen im Gesundheitssektor. Die Aareal Bank betreibt eine Plattform für die Wohnungswirtschaft, in die Mieter, Versicherer, Vermieter und weitere Partner eingebunden sind. Ein anderes, sehr ambitioniertes Projekt hat die Volksbank Mittelhessen gestartet und dafür das Tochterunternehmen Mittelstand.ai gegründet. Das ist eine Plattform, um Firmenkunden zusammenzubringen und mithilfe von Künstlicher Intelligenz gemeinsam Daten zu analysieren, die im Zuge von Industrie 4.0 entstehen.

Die Corona-Krise und die Flutkatastrophe zeigen, wie wichtig Banken vor Ort sind, um Spenden zu organisieren und Fördergelder bereitzustellen. Solche Krisen werden zunehmen. Welche (digitalen) Angebote können Banken bereitstellen, um solche Krisen gut zu bewältigen?
Möglich wäre, für bestimmte Umweltsituationen Plattformen zu entwickeln, die bei Bedarf freigeschaltet werden und den betroffenen Menschen Unterstützung bieten könnten. Hier wäre zu überlegen, ob Primärbanken oder vielleicht die KfW oder Hilfsorganisationen die geeigneten Betreiber wären. In letzterem Fall könnten sich Banken in diese Plattformen als Drittanbieter einbringen.

Wie sieht die Bank der Zukunft aus?
Erstens ist die Bank der Zukunft kundenzentriert und nicht bloß kundenorientiert. Schließlich existiert eine Bank nur deshalb, weil es Kunden gibt. Es geht schlicht um die Frage, was der Kunde benötigt. Zweitens sind alle Prozesse auf den Kunden ausgerichtet und vollständig digitalisiert oder zumindest digital unterstützt. Drittens ist nicht die Sparkasse um die Ecke oder die Filiale einer Großbank der Konkurrent. Die Wettbewerber sind vielmehr Direktbanken, Broker und vor allem die großen Tech-Konzerne wie Amazon, Apple oder Google. Wettbewerber, die nicht nur über riesige IT-Budgets verfügen, sondern auch viel dichter am Kunden sind. Mit diesen Wettbewerbern müssen unsere Banken umgehen. Dazu braucht es offene und flexible Systeme, die sich in die Prozesse der Kunden integrieren lassen. Das heißt: die Bank muss zum Kunden kommen.