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„Wir müssen heute anders führen als vor 50 Jahren“

Porträt Charta der Vielfalt

Vielfalt am Arbeitsplatz fördern, Führung neu gewichten und die Zusammenarbeit neu leben: das sind für uns wesentliche Elemente der Unternehmenstransformation, welche die Entfaltung und Entwicklung der Mitarbeiter*innen in den Mittelpunkt stellt. Wir sind noch mitten auf der Reise, doch gerade beim Thema Diversity haben wir uns klar dazu verpflichtet, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das frei von Vorurteilen ist und Vielfalt in allen ihren Ausprägungen wertschätzt. Als Ausdruck dieser Haltung haben wir 2014 die „Charta der Vielfalt für Diversity in der Arbeitswelt“ unterzeichnet, die vom gleichnamigen Verein Chart der Vielfalt e.V. getragen wird. Wir sind fest davon überzeugt, dass uns individuelle Stärken als Gemeinschaft stark machen und wir damit das genossenschaftliche Prinzip leben.
Zum zehnjährigen Jubiläum des Diversity Tags, den die Charta der Vielfalt initiiert hat, haben wir mit der Vorstandsvorsitzenden Ana-Cristina Grohnert über die Chancen einer vielfältigen Arbeitswelt und den nötigen Wandel im Mindset von Unternehmen gesprochen.

Ana-Cristina Grohnert, Sie sind das, was man in Deutschland immer noch als seltene Spezies betrachten muss: eine Top-Managerin. Sie waren HR-Vorständin bei der Allianz, Managing Partner bei EY und Head of Structured Finance Department bei der DG HYP, der Immobilienbank der Volks- und Raiffeisenbanken. Sie sind außerdem seit 2013 Vorstandsvorsitzende der Charta der Vielfalt. Wie kam es, dass Sie sich dem Thema Diversity verschrieben haben?
Ana-Cristina Grohnert:
Weil ich weiß, wie es ist, wenn man als einzelne Frau in etablierte männliche Kreise eindringt. Das habe ich vom Beginn meiner Karriere an zu spüren bekommen.

Das war Anfang der 1990er-Jahre. Wie war das damals, allein unter Männern?
Grohnert
: Das fing an bei der Preussag. Damals habe ich die Finanzierung von Großprojekten gemanagt. Aufbau Ost. Da mussten Großanlagen transportiert und aufgebaut werden. Ich saß irgendwo im Ural in einer russischen Verhandlungsrunde. Nur die Übersetzerin und ich waren Frauen. Die Männer waren verwundert, dass ich in der Mitte vom Tisch saß, weil ich die Verhandlungsführerin war. Das war schon eine ziemlich intensive Erfahrung. Aber auch in Deutschland habe ich so oft erlebt, dass mir von Männern in Verhandlungen oder Meetings über den Mund gefahren wurde. Dabei habe ich das erste Mal festgestellt, dass die Männer mit dem lautesten Führungsstil nicht immer diejenigen waren, die am meisten verstanden hatten. Die Intelligenten waren meistens still und haben erst einmal zugehört.

Wann haben Sie gemerkt, dass es auch anders gehen könnte?
Grohnert
: Als ich 1996 als Projektmanagerin zu ABB kam. Damals wurde ich zum ersten Mal schwanger. Da flog die Geschäftsführerin persönlich zu mir nach Hamburg und machte mir klar, dass sie so ziemlich alles dafür tun würden, damit ich weitermachte. Sie sagten zu mir, nimm den Kleinen mit auf Dienstreisen, wir zahlen die Nanny und tun alles, damit das funktioniert. Dann bin ich mit meinem vier Monate alten Sohn zu Verhandlungen nach London geflogen. Während ich in Meetings saß, war er bei der Nanny im Hotelzimmer. Und ich bin dann zum Stillen immer kurz rausgegangen.

Ihr Engagement für Diversity begann dann bei EY.
Grohnert
: Da gab es ein Frauennetzwerk. Ich wurde gefragt, ob ich das leiten wollte. Ich habe gesagt: Ja, wenn ich völlige Handlungsfreiheit habe. Und so habe ich ein Diversity-Netzwerk daraus gemacht.

Heute ist es nicht nur wichtig in seinem Bereich kompetent zu sein, sondern Führungskräfte müssen offen sein für das Neue und das Andere.

Weil Vielfalt viel mehr bedeutet als Gleichberechtigung der Frauen?
Grohnert
: Wir sind alle verschieden. Und das ist gut so. Wir brauchen etwas, das diese Vielfalt abbildet. Es gibt so viele unterschiedliche Dimensionen der Diversität: Herkunft, Geschlecht, sexuelle Identität, Alter. Ich betrachte das ganzheitlich. Wichtig ist, dass die Mehrheitsgesellschaft integrativ ist, die Menschen gleichbehandelt, unabhängig davon, woher sie kommen, welchem Geschlecht sie sich selbst zuordnen oder wie alt sie sind. Wir sind ein Einwanderungsland und müssen bei der Integration deutlich besser werden. Das betrifft vor allem den Fachkräftemangel. Es wird viel über Gender gesprochen, über die LGBTQI-Bewegung und auch über Inklusion. Als empathisches Unternehmen muss man heutzutage in der Lage sein, all diese Strömungen, all diese Lebensmodelle genauso zu verstehen und ihnen, genauso wie Frauen und Männern, Alten und Jungen dieselben Chancen einräumen.

Was bedeutet das für die Führung eines Unternehmens?
Grohnert
: Wir müssen heute anders führen als noch vor 50 Jahren. Wir kommen aus einem Jahrhundert, wo der größte Experte zur Führungskraft gemacht wurde. Heute ist es nicht nur wichtig in seinem Bereich kompetent zu sein, sondern Führungskräfte müssen offen sein für das Neue und das Andere. Die Welt verändert sich so rasant wie nie zuvor. Hinzu kommen die geopolitischen Risiken, wie die Pandemie, der Ukraine-Krieg und andere Konflikte. Das wirkt sich auch auf Investitionen aus. Da muss ich als Führungskraft in der Balance dieser Risiken managen. Und ich muss Menschen steuern, die eine Vielfalt an Lebensentwürfen, Erfahrungen und Kompetenzen einbringen: Junge Leute, die über digitale Kompetenzen verfügen, die die Alten nicht haben oder Menschen anderer Herkunft, die Perspektiven einbringen, die ungewöhnlich und innovativ sein können.

Wie sieht modernes Leadership heute aus?
Grohnert
: Die modernen Führungskräfte sind selbstsicher, was ihre Kompetenzen angeht, können aber auch zugeben, dass sie etwas nicht können oder wissen. Die Expertise kann du dir einkaufen, die Fähigkeit zuzuhören, sich anzupassen und zu verändern, das muss du leben. Dafür ist Vertrauen die wichtigste Voraussetzung. Außerdem müssen sie die Prägungen anders sozialisierter Menschen und deren Hintergründe verstehen und entschlüsseln können. Empathie und Integrität machen eine Führungskraft stark, und auch analytische Intelligenz. Als Leader musst du fühlen, warum jemand etwas sagt. Das gelingt nur, wenn du empathisch bist. Und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sagen es dir nur, wenn du integer bist.

Charta der Vielfalt e.V

Vielfalt ist nicht nur ein Gebot der Fairness und Menschlichkeit, sondern in der Arbeitswelt auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
Grohnert
: Wir haben immer mit dem Business-Faktor argumentiert. Nur so können Sie die Wirtschaft überzeugen. Fakt ist: Diverse Teams verfügen über mehr Kreativität, größere Innovationskraft, höhere Produktivität. Vielfalt bedeutet Wachstum und sie macht eine Organisation resilienter. Wenn in Krisenzeiten Menschen nicht mehr die Produktivität auf die Straße bringen, dann braucht ein Unternehmen eine empathische Führung und inklusive Leadership. Das hat sich in der Pandemie gezeigt und wird auch jetzt während der Ukraine-Krise deutlich. Da entstehen emotionale Belastungen und Ängste. Um diese Menschen muss man sich dann kümmern. Das ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, sondern es ist wichtig für eine Organisation, dass sie Energie produziert und nicht nur schluckt. Die größten Produktivitätsraten werden aber nur dort erreicht, wo die Führungskräfte in der Lage sind, diese Vielfalt zu managen und zu moderieren.

Wie wichtig ist Vielfalt für ein Unternehmen als Arbeitgeber?
Grohnert
: Das ist heute ganz entscheidend, gerade im Hinblick auf den Fachkräftemangel, wo viele Unternehmen händeringend Personal suchen und es nicht finden. Wer nicht auf die Bedürfnisse seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingeht, wird im Wettbewerb nicht bestehen können. Diversität ist aber nur dann erfolgreich, wenn man eine Kultur der Inklusion lebt. Menschen wollen Teilhabe, sie wollen sich zugehörig fühlen, sie erwarten, dass ihre Meinung gehört wird, und sie brauchen Sicherheit. Unternehmen, die ihren Mitarbeitenden Fehler gestatten und sie ermutigen, Ideen zu entwickeln und damit auch mal zu scheitern, werden Energie und Engagement zurückbekommen.

Wie groß ist die Bereitschaft deutscher Unternehmen, sich diverser aufzustellen?
Grohnert:
Vor allem, was die Gleichberechtigung der Frauen angeht, geht es sehr langsam. Der Dax holt gerade auf. Aber bei den Familienunternehmen, dem Kern der deutschen Wirtschaft, stagniert das Thema. Da sitzen immer noch die Leute, die denken, es gehe auch ohne. Da führen immer noch großenteils Menschen, die ein großes Potenzial am Arbeitsmarkt ignorieren, weil man sich da vielleicht ein bisschen anders darum kümmern muss.

Sind Sie beim Thema Gleichberechtigung von Frauen für eine Quotenregelung?
Grohnert
: Ich war jahrelang dagegen. Ich dachte, wenn eine Frau befördert wird, weil man eine Quote erfüllen muss, hilft man weder der Sache noch der Frau. Aber inzwischen bin ich für die Quote, weil man im Dax sieht, dass sich etwas verändert. Auszuweiten braucht man das nicht, da gibt es die EU-Quote. Der Druck wird von den Investoren kommen. Wer nicht reagiert, wird massive Schwierigkeiten haben, Investment-Gelder zu bekommen. Dann sind da noch die Kunden, die gewisse Produkte nicht mehr kaufen oder Mitarbeitende, die nicht mehr für ein Unternehmen arbeiten wollen, das Frauen anders behandelt als Männer. Das Bewusstsein ist in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Und auch der Druck durch die Stakeholder wird so groß, dass sich dem niemand mehr verweigern kann.

Ich halte ein Transformations-, Diversity- und Nachhaltigkeitsgremium in den Vorständen für unbedingt notwendig.

Die Pandemie hat gezeigt: Flexibleres Arbeiten ist möglich. Videokonferenzen sind Standard, wer mittags zum Arzt muss, arbeitet eben länger und man spart viel Zeit, weil der Weg zur Arbeit wegfällt. Wird das weiterhin so bleiben?
Grohnert
: Ich finde es erschreckend, wie oft ich während der Pandemie gehört habe: Ich bin froh, wenn die alle wieder im Büro sind, dann weiß ich wenigstens, was sie tun. Leute, die so etwas sagen, sitzen noch zahlreich in Führungspositionen. Das wäre ein bemerkenswerter Schritt zurück, wenn sich diese Einstellung durchsetzen würde. Aber ich bin sicher, die Entwicklung lässt sich nicht mehr zurückzudrehen. In anderen Ländern wären solche Kommentare undenkbar.

Braucht ein modernes Unternehmen einen CDO, einen Chief Diversity Officer?
Grohnert
: Natürlich. Am besten auf C-Level. Langfristig sollte sich der Job selbst abschaffen, wenn der Vorstand so weit ist. Aber zunächst braucht man Menschen, die die Diskussion anfachen. Ein guter CDO sensibilisiert die Kolleginnen und Kollegen in den Business-Units. Ich halte ein Transformations-, Diversity- und Nachhaltigkeitsgremium in den Vorständen für unbedingt notwendig. Für diese Themen braucht man das Mindset.

Gibt es große Konzerne, die mit gutem Beispiel vorangehen?
Grohnert
: In der Charta der Vielfalt arbeiten wir mit vielen Unternehmen zusammen, die uns immer wieder mit ihren ernstgemeinten und innovativen Maßnahmen für Diversity begeistern. Viele Unternehmen haben Vielfalt als echten ökonomischen Vorteil erkannt, weil sie sehen, dass sie der Komplexität an Herausforderungen, vor denen sie stehen, auch eine Vielfalt an Lösungen gegenüberstellen müssen. Und die bekommt man eben nur durch möglichst unterschiedliche Mindsets.